Lehrer und Mittelstufenleiter an einer Schule mit dem Förderschwerpunkt „Sehen“

„Ich finde es ganz toll wenn man bei jungen Menschen sieht wie sie größer, wie sie
selbständiger, erwachsener, reifer, wissender werden, wie sie so heranwachsen. […]
Und da so ein bisschen der Wegbegleiter zu sein, das finde ich klasse.“

– Ulrich Freistedt, Klassenlehrer und Mittelstufenleiter – 


 

Lehrer:in werden ist nur Plan B und attraktiv wegen der vielen Freizeit, Ferien und Verbeamtung. Diesem Vorurteil müssen sich viele angehende und alt eingesessene Lehrer:innen stellen, wenn sie sich für ihren Beruf entscheiden. Aber stimmt das wirklich? Ulrich löst in diesem Artikel auf, wie viel Wahrheit in diesen Annahmen steckt. Und er berichtet wie vielseitig sein Beruf ist.

Die Schule

Die blista

Ulrich ist Lehrer an der Deutschen Blindenstudienanstalt e.V. (blista), einem bundesweiten Kompetenzzentrum für Menschen mit Blindheit und Sehbehinderung. Die blista wurde 1916 als Umschulungsort für kriegsversehrte Soldaten gegründet. Heute lernen dort 250 Schüler:innen in den Klassen 5 – 13 am einzigen grundständigen Gymnasium im deutschsprachigen Raum mit Spezialisierung auf blinde und sehbehinderte Schüler:innen. Neben dem allgemeinen Abitur und einem mit Wirtschaftsschwerpunkt, können auch Fachoberschulabschlüsse mit den Profilen Gesundheit und Soziales oder Ausbildungen im Büromanagement und kaufmännischen Berufen sowie im IT-Bereich an der blista absolviert werden. Die Schüler:innen kommen aus dem gesamten deutschsprachigen Raum und leben während der Schulzeit im Internat der blista. Die blista betreibt außerdem ein bundesweit tätiges Zentrum für Barrierefreiheit, die deutsche Hörbücherei und einen Verlag für Punktschriftmedien auf dem gleichen Gelände.

KERNGESCHÄFT

Unterricht planen und halten

Zu Beginn seiner Laufbahn hat Ulrich die Vorbereitung der Unterrichtsstunden noch sehr viel Zeit gekostet.  Doch mittlerweile hat der Lehrer Routine und Erfahrungswerte entwickelt. Für gewöhnlich besteht eine Klasse aus 8 – 14 Schüler:innen. Schon ab Klasse 6 lernen sie im Zehnfingersystem zu schreiben, mittels Shortcuts die Bedienung der Maus zu umgehen und im Internet zu surfen. Auch sonst ist die fortschrittliche Technik elementarer Bestandteil des täglichen Unterrichtsgeschehens. Den Schüler:innen wird ein Großteil der Materialien über den Schulserver bereit gestellt und auch die Abgaben von Aufgaben laufen über das System. Ulrich korrigiert dann digital die Hausaufgaben und Klassenarbeiten und lädt diese für seine Schüler:innen zur Nachverfolgung hoch. Weitere Materialien, wie Abbildungen, Landkarten etc. werden vom blista-eigenen Medienzentrum produziert und in entsprechender Stückzahl bereitgestellt.

Diverse Unterrichtsmaterialien

Seine Unterrichtsvorbereitung wird durch die verschiedenen Sehbehinderungstypen und -grade, die seine Schüler:innen aufweisen, komplexer. Der Schulgarten eignet sich zum Beispiel gut für Experimente zur Düngung, die auch für Menschen mit Blindheit mittels der Wuchshöhe und -dichte gut auszuwerten sind. Wenn es aber z. B. um zellbiologische Vorgänge geht, greift er auf Abbildungen und Modelle zurück. Während manche in der Klasse einen DIN A4-Ausdruck einer Abbildung brauchen, nutzen andere das DIN A3-Format und wieder andere nutzen eine Typhlographie. Dies ist eine Kombination aus erhöhten und damit für Menschen mit Blindheit fühl- und unterscheidbaren Flächen, Linien und Punktschrift.

Mit Unterrichtsmaterial mit erhobenen Linien und Formen kann Ulrich komplexe biologische Strukturen erklären.

Durch die Diversität an Unterrichtsmaterialien wird der Unterricht vorbereitungs- und erklärungsintensiver. Ein Frontalunterricht, in dem das Buch aufgeschlagen wird und eine Textaufgabe nach der anderen gemacht wird, ist also nicht möglich und unabhängig von der Seheinschränkung nicht sehr zielführend. Stattdessen setzt Ulrich auf mehr Interaktion mit seinen Schüler:innen. Das erfordert mehr Zeit, weswegen er eine exemplarische Arbeitsweise verfolgt. Die intensivere Arbeit in der Entdeckungs- und Verstehensphase erfordert einen vergleichsweise hohen Zeitaufwand. Dies hat zur Folge, dass in den Übungsphasen weniger Beispiele und Aufgaben bearbeitet werden können. Je nach Thema ist das immer eine Abwägungsfrage. Die Erfahrung zeigt aber, dass einmal komplett verstandene Inhalte bei den Schüler:innen länger präsent bleiben und auch besser wieder herleitbar, und damit auch besser mit neuen Informationen kombinierbar sind. Durch den genaueren Zuschnitt der Unterrichtsinhalte und die viel individuellere Vermittlung- bzw. Lernstrategie werden die Schüler:innen möglichst gut in den Lernprozess eingebunden und gefördert. Das gemeinsame Lernen spielt dabei ebenfalls eine wichtige Rolle. Neben viel Abwechslung in den Unterrichtsmethoden ist ein Hauptziel das eigenständige und damit selbstorganisierte Lernen der Schüler:innen, ergänzt um ein großes Spektrum sozialer Kompetenzen.
Um das hessische Zentralabitur in den regulären 13 Schuljahren abzuschließen, leisten seine Schüler:innen ein überdurchschnittlich hohes Maß an Konzentration und Engagement.

Prüfen

Die schriftlichen Leistungskontrollen der Schüler:innen können diese individuell nach ihrem Sehvermögen und ihrer bevorzugten Technik ablegen. Handschriftlich erstellte Klausurlösungen werden auf dem Papier mit Rotstift korrigiert. Die meisten Klassenarbeiten werden aber digital verfasst. Die Ergebnisse lässt der Lehrer dann auf einen Stick ziehen und zusätzlich ausdrucken. Die Korrekturen können dadurch schnell und effektiv erfolgen. Sie laufen über direktes Reinschreiben in den Text mit eckigen Klammern und Lehrerkürzel. So kann auch die Korrektur wiederum barrierefrei vom Schüler bzw. von der Schülerin gelesen werden.

Schnittstelle und Wegbegleiter sein

Zusätzlich zu seiner Tätigkeit als Lehrer hat Ulrich mittlerweile eine Funktionsstelle als Mittelstufenleiter für die Klassen 8 – 10 inne. Dafür führt er Aufnahmegespräche mit neuen Interessent:innen, entwickelt pädagogische Konzepte und organisiert die Termine und Konferenzen der Mittelstufe. Er ist auch Ansprechpartner für Fachlehrer:innen und Klassenleitungen bei Projekten, wie auch Sorgen aller Art. Durch die Position als Mittelstufenkoordinator ist es für Ulrich zudem hilfreich, die Schüler:innen in diesen Klassenstufen persönlich zu kennen. Deshalb unterrichtet er momentan vorwiegend in der Mittelstufe.

Während an seiner vorigen Schule vor allem die Korrekturen von Klassenarbeiten zeitaufwändig waren, liegt der Schwerpunkt an der blista auf der Funktionsstelle. Ulrichs 50-52 Wochenstunden teilen sich in 15 Stunden Unterricht mit 10 Stunden Vor- und Nachbereitung auf, und 25 Stunden nutzt er für seine Tätigkeit als Mittelstufenleiter. In dieser Position ist er nicht weisungsbefugt, sondern führt seine Kolleg:innen lateral als Coach. Er entwickelt Förderpläne in Zusammenarbeit mit dem Internat, Fachlehrer:innen, und den Kolleg:innen der Reha-Abteilungen, um optimale Rahmenbedingungen für jede einzelne Schülerin und jeden einzelnen Schüler zu schaffen, damit sie sich zunehmend selbstbestimmter, freier und kritischer mit sich und ihrer Umwelt auseinandersetzen können.
In der Schule teilt sich Ulrich das Büro mit einer Kollegin. Von seiner Arbeitszeit verbringt er ca. 67 % in der Schule und 33 % Zuhause. Der Feierabend wird ca. um 18 Uhr eingeläutet. In turbulenten Zeiten wird es auch mal eher 20 Uhr; nur in Notfällen noch länger.

Klassenlehrer

Als Klassenlehrer einer 8. Klasse ist er die Schnittstelle zwischen Lehrer:innen, Eltern, Schüler:innen und den an sie gestellten Anforderungen. Außerdem beschäftigen ihn dabei natürlich die Themen Pubertät und der Umgang mit Versäumnissen aller Art. Die Telefonate mit Eltern, Klassenkonferenzen und Elternsprechtage halten ihn dabei kontinuierlich auf Trab.

Konferenzen

In der ersten großen Pause findet immer das Lehrercafé statt, in dem man sich zwischen Tür und Angel unbürokratisch austauscht. Außerdem gibt es pro Schuljahr eine Fachkonferenz, in der neue Anschaffungen, Unterrichtsthemen und die Absprachen für Materialien- und Raumnutzungen, Exkursionen, fachliche Unterstützung etc. besprochen werden. Zudem wird beratschlagt, wie die Schulentwicklung, Förderplanung und Präsentation nach außen gestaltet werden soll. Dazu gehört pandemiebedingt z. B. aktuell das Entwickeln eines Konzepts, wie man neuen Interessent:innen, die unter normalen Bedingungen eine Woche zur Probe an der Schule verbringen können, dieses Erlebnis anbieten kann.

Online unterrichten

Die momentane globale Pandemiesituation bedeutet auch für Ulrich eine große Umstellung. Nun muss auch er seine Schüler:innen online unterrichten. Dabei hilft ihnen ein geteiltes online Whiteboard, das von allen beschreib-, ausles- und abspeicherbar ist. Zu Beginn hat er noch Unterrichtsstoff vorgezogen, der online einfacher zu verstehen ist und ohne Abbildungen auskommt. Mittlerweile musste er aber dazu übergehen, Abbildungen für die nächsten Monate in gebundenen Ordnern per Post zu verschicken. Damit lässt sich die Zeit bis zum Öffnen der Schulen zwar überbrücken, aber es ist trotzdem kompliziert den Stoff zu erklären. Das ist unter anderem auf die unterschiedlichen Beschriftungen in Punkt- oder Schwarzschrift, sowie die verschiedenen Formate der Abbildungen zurückzuführen. Wie auch sonst, fehlt natürlich auch hier die persönliche Interaktion zwischen der Lehrkraft und den Schüler:innen. Trotzdem hat die blista es geschafft, weiterhin mindestens einmal pro Woche in jedem Schulfach eine interaktive Stunde zu gestalten, damit die Schüler:innen sich nicht komplett selbst überlassen werden. Ein großer Erfolg für alle Beteiligten!

SCHLÜSSELKOMPETENZEN

Punktschrift lesen zu können ist elementar, um an Ulrichs Schule erfolgreich unterrichten zu können.

Wichtige Kriterien für einen der sehr begehrten Arbeitsplätze an der blista ist es, authentische:r Lehrer:in zu sein. Auch als Vorbild zu fungieren und sich selbst nicht zu ernst zu nehmen sind in diesem Beruf wichtige Kernkompetenzen. Naturgemäß sollte man Aufgeschlossenheit gegenüber dem Thema blind sein und Sehbehinderungen mitbringen. Weiterhin sind explorative Neugier und der Wille, kontinuierlich auch als Lehrkraft zu lernen, elementar, da alle im Kollegium Punktschrift lesen können müssen. Außerdem sollten einem folgende Dinge leicht von der Hand gehen:

  • der Umgang mit dem Computer,
  • das Formatieren von Texten,
  • das Lernen von z. B. Readout-Systemen, die Texte vorlesen und
  • LaTeX, das für mathematische Formeln genutzt wird

WORK-LIFE-BALANCE

Anfängern in seinem Beruf würde Ulrich empfehlen, zu Beginn noch keine volle Stelle zu besetzen. Der Lehrer begründet seine Empfehlung damit, dass die Belastung recht groß ist und die Vorbereitungszeit pro Unterrichtsstunde locker zwei Stunden betragen kann. Das kann schnell sehr belastend werden.

Den Beruf als Lehrer würde Ulrich als familienfreundlich einstufen, da er zumindest nachmittags deutlich flexibler für seine Kinder da sein kann als andere Arbeitnehmer:innen. Auch ist es in seiner Familie möglich, dass er sowohl Frühstück als auch Abendbrot zusammen mit seinen Kindern essen kann. In den Sommerferien, die immer in die Hochsaison fallen, genießt er es in vollen Zügen, vier bis fünf Wochen richtig frei zu haben und völlig abschalten zu können. Entgegen der allgemeinen Annahme hat er in den übers Jahr verteilten Ferien nicht durchgehend frei: Er nutzt die Zeit auch, um Unterricht vor- oder nachzubereiten, Akten zu studieren, Klausuren zu korrigieren, die nächsten Termine und Konferenzen der Mittelstufe vorzubereiten etc.

GEHALT

Als Oberstudienrat mit Funktionsstelle bezieht Ulrich ein monatliches Gehalt in der Stufe A14. Damit ist er zufrieden und kann über keine finanziellen Sorgen klagen, sondern sich und seine Familie gut versorgen.

VORERFAHRUNG/FORTBILDUNGEN

Die Veränderung der Lehrpläne ist überschaubar. Alle drei bis vier Jahre gibt es neue Lehrbücher und Texte, die die Schule in digitalisierter Form von den verschiedenen Schulbuchverlagen angeboten bekommt. Für Abiturthemen greift der Lehrer auch gerne zeitgenössische Wissenschaft auf, wie z. B. die innere Uhr über die er sich am liebsten über Podcasts und Fachzeitschriften informiert. Der Wissensaustausch im regen Kollegium und unter den 7 Biolehrer:innen funktioniert auch sehr gut.
Regelmäßig werden hausinterne pädagogische Tage veranstaltet, in denen das Wissen z. B. rund um Förderplanung oder Abiturprüfungen aufgefrischt und erweitert wird. Manchmal lädt die Schule dafür auch Referent:innen von außerhalb ein, die spezielle Kenntnisse und Erfahrungswerte in dem Bereich haben.
Für die didaktische Weiterbildung wird alle zwei Jahre ein Aufbaustudium als Master angeboten, der sich „Sonderpädagogik Schwerpunkt Sehen“ nennt. Er ist eine Kooperation der Universität Marburg und der blista. Außerdem wird noch ein sogenanntes Zusatzzertifikat mit ähnlichem Inhalt angeboten, welches berufsbegleitend in einem Jahr erworben werden kann. Nach dem Abschluss wurde Ulrich gebeten, dort auch als Dozent zu agieren, um frisch aus dem schulischen Alltag berichten zu können.
Zudem gibt es regelmäßige fachliche Fortbildungen, wie z. B. im Mathematikum in Gießen, welches sich nun als „Anfassmuseum“ etabliert hat und mit Unterstützung der blista inzwischen weitgehend barrierefrei ist.

Ulrich nimmt auch an Fortbildungen für Regelschullehrer:innen teil. Währenddessen denkt er mit, wie man den Stoff für seine Schüler:innen adaptieren kann, denn viele dort vorgestellte Lehrformen kann er mit ihnen nicht nutzen. Während also ein Zeichentrickfilm für den Unterricht an der blista nicht ohne Vorbereitungen, wie z. B. Beschreibungen, oder verbale Kommentare durch den Lehrer während des Films geeignet ist, sorgen Modelle von Erythrozyten aus dem hauseigenen 3D Drucker für deutlich mehr Verständnis.

SCHULZEIT & BERUFAEINSTIEG

Weg bis zum Studium

Bis zur 9. Klasse lernte Ulrich an einem Regel-Gymnasium. Als sich dann seine Sehbehinderung bemerkbar machte, kam eine Regelschule – unter anderem wegen dem leider fehlenden Integrationswillen der Schulleitung – nicht länger in Frage.

„Das waren damals Zeiten, da wurde Inklusion so klein geschrieben, dass man es gar nicht lesen konnte – nicht mal die Sehenden.“

Die nächstgelegene Schule für sehbehinderte Schüler:innen war eine Hauptschule in Mannheim, an der Ulrich seinen Hauptschulabschluss ablegte. Da sein eigentlicher Traumberuf Tischler oder Schreiner zu werden durch die Sehbehinderung nicht umsetzbar war, machte er eine Berufsberatung beim Arbeitsamt, die auch einen Intelligenztest beinhaltete. Der war jedoch für Sehende ausgelegt, weswegen das Ergebnis nicht aussagekräftig war.  Auch die Idee der Mitarbeiterin Landmaschinenmechaniker zu werden, zeigte erneut das fehlende Verständnis seiner Situation. Die einzige Alternative, die ihm vorgeschlagen wurde, war einer der „typischen Berufe für blinde Menschen“: Masseur.

Über einen Kontakt seines Augenarztes erfuhr Ulrich schließlich von der blista in Marburg und besuchte dort die 10. – 13. Klasse bis zum Abitur und lebte im Internat. In der Zeit entwickelte er, unter anderem wegen seiner Erfahrung bei den Pfadfindern  seinen neuen Berufswunsch: Lehrer. Da er im Abitur Biologie und Mathe als Leistungskurs hatte, entschloss er sich dazu, beides auf Lehramt zu studieren. Später kam dann aus Interesse noch Geographie hinzu.

Barrierearmes Marburg

Die Standortwahl erfolgte bei Ulrich u. a. aufgrund der Blindenfreundlichkeit von Marburg: Die Bewohner:innen der hessischen Universitätsstadt sind an Menschen mit Blindheit gewöhnt, da die blista prägend für die Stadt ist. Über 500 ehemalige blista Schüler:innen leben in der Stadt. Das führt dazu, dass es kaum Berührungsängste gibt und auch Angaffen oder Getuschel sehr selten vorkommt. Außerdem machen sprechende Bushaltestellenschilder und Informationsdienste über Baustellen das tägliche Leben für Menschen mit Seheinschränkung einfacher.

Studieren mit Seheinschränkung braucht Vorbereitung

Der Studienanfang erforderte für Ulrich etwas mehr Organisation im Vorfeld, als für viele seiner Kommilliton:innen. So wurde er finanziell dabei unterstützt, eine Hilfskraft für seine Praktika einzustellen. Allerdings musste Ulrich alles selbst organisieren – von der Ausschreibung des Minijobs bis zur Abrechnung. In Hessen läuft die Finanzierung über das Integrationsamt. Die Finanzierung erfolgt durch Strafabgaben von Unternehmen, die ihre Behindertenquote nicht erfüllen.
Schon vor der ersten Vorlesung hat Ulrich zu sämtlichen seiner Professoren:innen persönlichen Kontakt gesucht und ist dabei meist auf positive Reaktion gestoßen. Dadurch haben die Lehrenden ihn in mündlichen Kolloquien oder computerbasierten, statt den gewöhnlichen handschriftlichen Klausuren, mindestens ebenbürtige Prüfungen abgenommen, von Vorlesungsfolien konnte er sich Kopien ziehen und in Seminaren konnte er von den Professor:innen vermittelten Assistent:innen aus höheren Fachsemestern profitieren. Obwohl Marburg eine der barriereärmeren Städte ist, damit gute Voraussetzungen für sehbehinderte Studierende stellt, war er der erste sehbehinderte Biologiestudent seit vielen Jahren.

Einstieg ins Berufsleben

Für sein Referendariat blieb Ulrich in Marburg und unterrichtete am Humanistischen Gymnasium Philippinum.
Erste eigene Unterrichtserfahrungen konnte Ulrich dann in Magdeburg machen, wo er eine Schwangerschaftsvertretung an einer Gesamtschule übernahm. Da die Schule aber in einem sozialen Brennpunkt lag, beschreibt er diese Erfahrung als Feuertaufe.

Alle Wege führen nach Marburg

Seine nächste Anstellung fand Ulrich in Braunschweig an einem privaten, stiftungsfinanzierten Gymnasium mit angegliedertem Internat. Dort wurden speziell Kinder mit Hochbegabung gefördert, die dort die Möglichkeit haben, einen Schnellläuferzug zum Abitur zu durchlaufen.
An dieser Schule war die besondere Herausforderung, dass er außerordentlich intelligente Schüler:innen unterrichtete. Sie verstanden den Stoff teilweise so schnell, dass sie schon Unikurse parallel zur Schule belegten. Da allerdings eine umfassende Hochbegabung eher selten ist, war die Herausforderung im Unterricht, den Stoff in verschiedenen Schnelligkeiten bzw. Anforderungsniveaus zu unterrichten.
Über einen Freund aus Marburg, der seinerzeit an der blista arbeitete, kam ein Austauschprojekt zwischen den beiden Schulen zustande, denn interessanterweise haben die Schüler:innen der beiden doch sehr verschiedenen Privatschulen mehr Gemeinsamkeiten als man sich vielleicht auf den ersten Blick denken könnte. Das Projekt fand auch Anklang bei dem Schulleiter der blista, der Ulrich noch aus Schülertagen kannte und ihm schließlich eine Anstellung an der blista anbot. Schlussendlich hat Ulrich eingewilligt, obwohl er mit seiner Familie grade in ein Haus in Braunschweig gezogen war. Die Möglichkeiten und Perspektiven der neuen Stelle waren einfach zu verlockend.

Diverse Lehrer:innen

An der blista lernen die Schüler und Schülerinnen sich mit dem Langstock und weiteren Orientierungshilfen im öffentlichen Raum zu bewegen.

An der blista sind insgesamt ungefähr 400 Mitarbeiter:innen tätig. Den größten Anteil machen dabei die Mitarbeiter:innen des Internates aus, die die Internatsschüler:innen je nach Alter angemessen intensiv betreuen. Es gibt Wohngruppen für die Jüngeren in der Nähe des Schulgeländes. Die Älteren wohnen in der Stadt. Meist sind dabei vier bis acht Kinder gemeinsam untergebracht.

Für das Erlernen von lebenspraktischen Fertigkeiten, sowie Orientierung und Mobilität, verfügt die blista über Trainer:innen, die die Schüler:innen individuell angepasst an den jeweiligen Förderbedarf  zusätzlich zum Schulalltag begleiten. Diese Förderung besteht neben dem Langstocktraining und dem Nutzen zusätzlicher Orientierungshilfen im öffentlichen Raum auch aus Haushaltstätigkeiten, wie Wäsche nach Farbe zu sortieren bis zum Kochen. Die Schule hat es sich zur Aufgabe gemacht, den Kindern das Rüstzeug für ihr weiteres Leben in der Welt der Sehenden zu vermitteln. Auch wenn der erste Arbeitsmarkt für blinde und sehbehinderte Menschen nicht leicht zu erobern ist, sind die heute erfolgreichen Alumni doch sehr dankbar für alles Gelernte.

RAT AN MEIN STUDIERENDES ICH

 „Mein Rat wäre, dass man sich nicht verstecken sollte, sondern offensiv an die neuen Herausforderungen und Aufgaben heran geht und auf die Menschen zu tritt und […] sich als kommunikativ und kooperativ von vornherein gleich zeigt. Zwar war die ungewollte Aufmerksamkeit der Professor:innen am Anfang belastend, aber am Ende hat es sich doch ausgezahlt.“

BISHERIGER WERDEGANG

  • 1993-2000 Lehramtsstudium an der Phillips Universität Marburg für die Fächer Mathematik, Biologie und Erdkunde für das Gymnasium
  • 2000-2002 Referendariat in Marburg am Humanistischen Gymnasium Philippinum 
  • 2002-2003 6 Monate Schwangerschaftsvertretung Gesamtschule Magdeburg
  • 2003-2009 Angestelltensteller an der Christophorus Schule in Braunschweig
  • seit 2009 Lehrer und Mittelstufenleiter und Mitglied der Schulleitung an der blista Marburg